Was erfüllt die Lebenszeit, was lässt sie als verloren erscheinen? Weil Zeit etwas Abstraktes, schwer Fassbares ist, sprechen die Religionen von ihr in Bildern. Östliche Religionen wie Hinduismus und Buddhismus vergleichen die Zeit mit einem Rad, das sich dreht und stets an seinen Ausgangspunkt zurückkehrt: Die Natur erblüht und stirbt ab im Wechsel der Jahreszeiten, die Seele wandert im Wechsel der Generationen von einem Leben zum andern, auch die Verrichtungen des Alltags sind immer gleich. Eine so natürliche Vorstellung entlastet vom Druck der Endlichkeit und erleichtert, das Leben so anzunehmen, wie es vorgesehen scheint.
Und doch ist es einigen zu wenig, sich wie in einem Getriebe zu fühlen, sich in Jahres- und Wochenrhythmen stets im gleichen Rad zu drehen. Sie ziehen sich aus allem heraus und suchen ihre Erfüllung in der Abgeschiedenheit.
Anders die jüdisch-christliche Tradition: Sie vergleicht die Zeit mit einer Einbahnstraße. Ihr Anfang ist die Schöpfung. Sie läuft auf ein Ende zu, das Jüngste Gericht. Dazwischen bewegen sich alle Menschen in eine Richtung. Die Landschaft wechselt ständig. Es gibt kein Zurück, weiterziehen heißt Abschied nehmen. Jede Wegstrecke, jede Person ist einmalig und kehrt so nicht wieder. Versäumnisse und Unrecht lassen sich nicht rückgängig machen, man kann nicht in einem späteren Leben wieder bei null anfangen.
„Unser Leben währet siebzig Jahre“, heißt es im 90. Psalm Mose, „und was daran köstlich scheint, ist doch nur vergebliche Mühe; denn es fähret schnell dahin, als flögen wir davon.“ Es ist die Bilanz eines alternden Menschen, kein Aufruf zu Resignation. Denn Judentum und Christentum sind leidenschaftliche Religionen. Ihr Gott ist ein leidenschaftlicher Gott, zornig über Unrecht und Feigheit und gütig gegenüber den Besonnenen. „Was, wenn nicht jetzt? Wer, wenn nicht du?“, fragt die Werbung und fordert dazu auf, keine Zeit für den Konsum zu verlieren. Doch genau so, im Rausch, zerrinnt die Lebenszeit sinnlos.
Der Gott des Judentums und Christentums mag leidenschaftlich sein, wenn es um Recht und Gerechtigkeit geht. Aber er ist nicht affektgesteuert. „Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden“, fährt der 90. Psalm fort. Die Zeit ist zu kurz, sich lediglich treiben zu lassen. Der Mensch soll den Verstand benutzen und durchdachte, verantwortbare Entscheidungen treffen.
Die Vorstellung, endlich zu sein, kann bedrücken. Und doch erfüllt sich Lebenszeit von selbst. Man darf sie nur nicht verstreichen lassen.
Burkhard Weitz
Aus: „chrismon“, das evangelische Monatsmagazin der Evangelischen Kirche. www.chrismon.de