„Meine Augen haben deinen Heiland gesehen, das Heil, das du bereitet hast vor allen Völkern.“ – Lukas 2, 30-31

Wie muss das wohl gewesen sein? Als der alte Simeon im Tempel das Neugeborenen in den Armen hielt? Die alten, rauen, faltigen Hände, die das kleine, zarte Baby halten. Ein lebenssattes, gelebtes Leben trifft auf ein beginnendes Leben. Zwei Lebenskreise, die sich für einen Moment verbinden. Ich stelle mir leuchtende Augen bei Simeon vor – wie das Leuchten der Kinderaugen am Weihnachtsbaum. Und Staunen, großes Staunen. Und ich muss an die Liedstrophe denken: „Ich sehe dich mit Freuden an und kann mich nicht satt sehen, und weil ich nun nicht anders kann, bleib ich anbetend stehen…“ (aus „Ich steh an deiner Krippen hier).

Simeons Herz quillt über. Es springt und hüpft vor Freude. Sein Herz ist so voll „Das Warten, es hat sich gelohnt“ – dass ihm der Mund übergeht. Denn er stimmt zugleich in einen Lobpreis ein. Er ruft „Nun lässt du deinen Diener in Frieden fahren; denn meine Augen haben deinen Heiland gesehen, das Heil, das du bereitet hast vor allen Völkern“. Simeon hat gewartet. Treu gewartet. Er hat das Unmögliche für möglich gehalten. Und nun hat er endlich den Heiland gesehen und kann in Frieden, mit ruhiger Seele gehen von dieser Welt. Simeons Lobgesang (Nunc dimitis) ist so berühmt geworden, dass dieser noch heute im katholischen Abendgebettäglich gesungen wird.

„Nicht müde werden, sondern dem Wunder leise wie einem Vogel die Hand hinhalten“, schreibt die Dichterin Hilde Domin – und das ist, was Simeon tut. Er wird nicht müde an das Unmögliche, an Wunder zu glauben. Er verliert nicht die Hoffnung, auch nicht im Alter. 

Er hofft und glaubt. Und das tut er aktiv. Er geht nicht in sein stilles Kämmerlein und wartet dort. Nein. Er wartet aktiv. Er hält Augen und Ohren offen, geht bewusst durch die Welt.

Er ist nicht müde am Ende seines Lebens, sondern hellwach. Und er streckt dem Wunder Tag für Tag die Hand hin, wie einem Vogel. Und plötzlich, an einem Tag, da kommt der Vogel tatsächlich.

Wir wissen nicht, was die Tage bringen werden. Wir stehen mit unseren müden Füßen am Ende des Jahres, im Advent. Es sieht dunkel aus um uns herum. Es war und bleibt ein unseliges Jahr: mehr als 100 Millionen Menschen sind laut UNO auf der Flucht, tausende sterben, die Zustände in den Fluchtlagern der EU und hinter ihren Grenzen bleiben ein Dauerthema, im Niger hat sich im Sommer die Lage katastrophal zugespitzt, der Krieg in Nahost, die weltweit steigenden Zahl antisemitischer Angriffe und der um sich greifende antimuslimischer Rassismus. 

Mit Simeon gehe ich nicht hoffnungsvoll in den Advent. Aber hoffnungsvoller als hoffnungslos. Halte das Unmögliche weiterhin für möglich: Frieden. Halt Augen und Ohren offen. Für Gottesfunken im Dunkeln. 

„Nicht müde werden, sondern dem Wunder leise wie einem Vogel die Hand hinhalten“ – jeden Tag.

Pfarrerin Maike Schöfer