„Du bist ein Gott, der mich anschaut“
– so lautet die Jahreslosung für das Jahr 2023. Zum ersten Mal in der Geschichte der Jahreslosungen wurden Worte von einer Frau gewählt. „Du bist ein Gott, der mich anschaut“, diesen Satz spricht Hagar im Ersten Testament. Hagar ist zudem die erste Person in der Bibel, die einem Boten Gottes begegnet und ihr werden Nachkommen verheißen, auf eine Art und Weise, wie es sonst nur Männern verheißen wird. Hagar ist außerdem die erste Person, die Gott einen Namen gibt: El Roï – Du bist ein Gott, der mich anschaut. Ist Hagar damit sogar die erste Theologin? Im Islam spielt Hagars Geschichte eine so wichtige Rolle, dass ihr beim Haddsch, der Wallfahrt nach Mekka, gedacht und ihre Geschichte symbolisch nachvollzogen wird.
Zeit also, dass wir uns mit Hagar befassen:
Hagar ist eine ägyptische Sklavin und wird von Sara und Abraham als Leihmutter herangezogen. Denn Sara ist bereits eine alte Frau und kann keine Kinder mehr bekommen. So sollte Hagar schwanger werden und das erstgeborene Kind Abrahams austragen. Als Hagar schwanger wird, beginnen die Konflikte. Sie wird so schlecht von ihrer Herrin Sara behandelt, dass sie in die Wüste flieht. In der Geschichte wird deutlich, dass Hagar auf dreifache Weise unfrei ist: als Frau, als Sklavin und als Ausländerin. Und nicht nur unfrei, sondern sie wird auch übersehen. Ihre Empfindungen und ihr Erleben hatten keinen Platz und waren nicht erwünscht. Sie wurde nicht geachtet, stattdessen gedemütigt.
Übersehen und nicht geachtet. Ausgenutzt und gedemütigt. Wie vielen Menschen geht es so? In den unterschiedlichen Lebensbereichen. Ich denke an Frauen, Menschen aus der LGBTQIA+ Community, Schwarze Menschen, Menschen mit Behinderung – so viele Menschen, die unter Gewalt, Ausstoß und Diskriminierung leiden.
Hagar hält es nicht aus und flieht in die Wüste. Sie begibt sich mit ihrer Flucht in Lebensgefahr. Doch dort in der Wüste macht sie eine rettende Gotteserfahrung an einem Brunnen, ihr begegnet ein Engel, ein Bote
Gottes. Und sie erfährt: Gott lässt sie nicht allein. Gott* sucht nach ihr.
Und hilft und befreit. Ihr, der Sklavin und schwangeren Ausländerin.
Daraufhin gibt sie Gott* den Namen „Du bist ein Gott, der mich anschaut“. Die Bibel kehrt hier Machtverhältnisse um: eine Sklavin darf sprechen und Gott einen Namen geben.
In unserer Gesellschaft werden viele Menschen übersehen oder müssen
ein Schattendasein leben, besonders Frauen und marginalisierte Gruppen.
Die Geschichte Hagars, die mit der Geburt des Erstgeborenen Sohnes
Ismaels noch weiter geht, zeigt in diesen ersten Szenen deutlich, die
Ungesehenen werden von Gott* gesehen. Sie werden geachtet und gestärkt. Gott* sieht nicht nur hin, sondern sieht an. Den ganzen Menschen. So gestärkt kann Hagar in die Zukunft gehen und zurückkehren zu Sara und Abraham. Die Jahreslosung regt an, genau da hinzusehen, wo es dunkel ist und kaum hingesehen wird. Im Kleinen und im Großen. Sie regt auch an, Diskriminierung und Gewalt zu erkennen, zu benennen und zu bekämpfen. Unterdrückten und unbeachteten Menschen eine Stimme geben. Sie anzusehen. Für ein gerechtes und friedliches Leben aller Menschen.
Du bist ein Gott*, der mich anschaut. Du bist die Würde die Liebe gibt. Amen.
Ihre Pfarrerin Maike Schöfer
Zur Jahreslosung gibt es in der Heftmitte der aktuellen Ausgabe unseres Gemeindeanzeigers eine Illustration von „Kunst und Glitzer“ zum Heraustrennen und ausmalen. Vielen Dank an die kreative Erstellerin!
Foto: epd-bild/Christian Ditsch